AIL März 2019

AUS DEM VISIONSPROZESS Ein Kassenkampf Freie Ärzte gegen sparsame Krankenkassen 1889-1901: Konfliktlinien und Akteure Die Einführung der verpflichtenden ArbeiterInnen Kranken­ versicherung im Jahr 1889 1 markierte einen Meilenstein der österreichischen Sozialgesetzgebung. Allerdings war der größere Teil der unselbständig Beschäftigten davon nicht betroffen, nämlich die Landarbeiter und das Hauspersonal. Bei Gewerbe­ betrieben trat die Versicherungspflicht erst bei über 20 Bedien­ steten in Kraft. Auch in anderen Hinsichten bildete das Gesetz einen Kompromiss zwischen den bereits bestehenden und den zu schaffenden Gegebenheiten. So blieben die bereits freiwillig eingerichteten Betriebs- und Genossenschaftskassen sowie die gegenseitigen Unterstützungsvereine bestehen. Bereits vor der Gewerbeordnung von 1859, die Betriebskassen vorschrieb, hatte es in Vorarlberg solidarische Krankenversicherungen gegeben. Aber eben nicht verpflichtend für alle Beschäftigten. 2 Für jene ArbeiterInnen und Gehilfen, die keiner dieser bestehenden Krankenkassen angehörten, wurden so genannte Bezirks­ krankenkassen errichtet. So bestanden allein in Dornbirn zwölf verschiedene Kassen 3 , die gemeinsame Anliegen in einem „Comite der Krankenkassen“, das insgesamt etwa 4.000Versicherte vertrat, berieten und auch vortrugen. Im ganzen Land bestanden um 1900 an die 60 verschiedene Krankenkassen. 4 Finanziert wurden diese durch die Beiträge der Versicherten (2/3) und der Arbeitgeber (1/3). Die Versicherten hatten bei den meisten Kassen 3% des Bruttolohns einzuzahlen, die Arbeitgeber mussten diesen Beitrag auf 4,5% aufstocken. Der bedeutendste genossenschaftliche Selbsthilfeverein war die 1877 von Arbeitern gegründete „Allgemeine Kranken- und Invalidenunter­ stützungskasse“ mit Zentrale in Feldkirch und etlichen Ortsfilialen mit etwa 1.000 Mitgliedern. 5 Bei den Betriebskrankenkassen wurde die Verwaltung meist von den Firmen übernommen, was diesen in der Regel auch mehr Einfluss auf die Geschäftsgebarung sicherte. Es überrascht deshalb kaum, dass der Vertreter der Vorarlberger Industrie, Dr. Samuel Jenny aus Hard, anlässlich einer Wiener Enquete zur bereits notwendigen Reform des Krankenversicherungsgesetzes im Jahr 1897, „nachdrücklichst“ für die Beibehaltung der Betriebskrankenkassen eintrat. 6 Im Gegensatz dazu forderten staatliche Experten eine Zentralisierung des Krankenkassenwesens, weil das gesetzlich festgeschriebene Prinzip der Selbstverwaltung durch die Beiträger bei den Betriebskrankenkassen bisweilen kaum gegeben war. Erst in der Republik wurden die zahlreichen Versicherungsinstitute zu jeweiligen Gebietskrankenkassen zusammengelegt und die Mitgliedervertretung durch paritätisch besetzte Gremien ersetzt. 7 Besonders die Bezirkskrankenkassen kämpften von Anfang an mit finanziellen Problemen, weil sie – so der Verwalter der Dornbirner Bezirkskasse in einem Subventionsansuchen an die Gemeinde – „von Beginn an kränkelnde und kranke Mitglieder aufnehmen mussten“, während „die bestehenden Krankenkassen nur kerngesunde Leute aufnehmen“. Zudem hätten die Bezirkskassen überdurchschnittlich viele Wöchnerinnen, denen laut Gesetz vier Wochen Krankenunterstützung zustehe. „Diese Gelegenheit benutzten hauptsächlich die Sticker zur Ausbeutung der Kasse, indem sie ihre Frauen bei schon vorgerückter Schwangerschaft als Gehilfinnen anmeldeten und kurz nachdem sie die Unterstützung für das Wochenbett erhalten hatten, wieder abmeldeten.“ 8 Dass sich die Bezirkskrankenkasse guten Gewissens an die Gemeinde um Unterstützung wandte, hatte seinen Grund auch darin, dass besonders die Kommunen durch das neue Gesetz in ihren sozialen Verpflichtungen massiv entlastet worden waren. Daneben aber kämpften die neu geschaffenen Bezirkskassen auch mit internen Problemen. So wurde etwa 1900 bekannt, dass der Kassier der Bregenzer Kasse, der sozialdemokratische Funktionär Franz Fexer, Kassengelder veruntreut hatte. 9 Doch auch mit dem christlichsozialen Nachfolger, dem Arbeiter­ funktionär Kaspar Rohner, den man extra aus Dornbirn abge­ worben hatte, blieb die Bregenzer Krankenkasse glücklos. Der Kassensekretär hatte sich in Bregenz zusätzlich als Wirt versucht und schlitterte 1911 in einen Aufsehen erregenden Konkurs. 10 Die Ärzteschaft Neben solchen internen Problemen, ungenügender Dotierung, legistischen Unzulänglichkeiten und dem zum Teil massiven Einfluss der Unternehmer auf die Arbeit und die Leistungen der Versicherungseinrichtungen, erwuchs den Krankenkassen ein Konfliktfeld, das nicht nur Kräfte und Mittel band, sondern zu einer öffentlich ausgetragenen, teilweise erbittert geführten grundsätzlichen Auseinandersetzung mit den wichtigsten Partnern im Gesundheitswesen, nämlich den Ärzten, ausartete. 1 Das „Arbeiter Krankenkassengesetz“ wurde vom Reichsrat am 30. März 1888 beschlossen und trat mit 1. Jänner 1889 in Kraft (RGBl. Nr. 33/1888). 2 Siehe Eugen Hepp, Anfänge und Entwicklung der solidarischen Kranken­ versicherung in Dornbirn bis zur Gewerbeordnung 1859. In: Dornbirner Schriften 23/1997, 107-159. 3 Vorarlberger Landes-Zeitung (später VLZ) 23.2.1897. 4 Walter Zirker, „Allein der Patient starb, vor er geheilt war. Ärzte und Wundärzte in Vorarlberg von 1814 bis 1914, Regensburg 1998, 101. 5 Feldkircher Zeitung (später FZ) 21.5.1902. 6 FZ 10.4.1897. 7 Siehe Robert Grandl, Die Geschichte der Selbstverwaltung von den Arbeiterkassen des 19. Jahrhunderts bis zum Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger. Wien 2017. Dr. Meinrad Pichler Der renommierte Historiker hat mit seinen Forschungen und Publikationen einen zentralen Anteil an der Aufarbeitung der Vorarlberger Landesgeschichte Foto: A. Serra 8 Schreiben des Kassenverwalters Kaspar Rohner an die Gemeinde Dornbirn vom 10.10.1894, StArDo. 9 Siehe Reinhard Mittersteiner, „Fremhäßige“, Handwerker und Genossen. Die Entstehung der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung in Vorarlberg. Bregenz 1994, 149 f. 10 VLZ 19.4.1911. 10 | ARZT IM LÄNDLE 03-2019

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