AIL März 2019
AUS DEM VISIONSPROZESS einsparen, um die eigene Entschädigung zu verbessern, geriet der Kassenkampf auch zu einer persönlichen Auseinandersetzung zwischen zwei bis dahin einmütigen und exponierten liberalen Parteigängern. 22 „Wenn Sie keine anderen Kampfmittel besitzen“, erwiderte der in seiner Ehre angegriffene Luger in einem offenen Brief dem Ärztekammerpräsidenten, „so legen Sie die Führung dieses Kampfes in würdigere, abprobierte (sic!) Hände, wenn die von Ihnen schon mehrfach erwähnte Standesehre nicht von Ihnen selbst gefährdet werden soll.“ 23 Und tatsächlich zog sich Dr. Herburger, obwohl er noch eine Zeitlang Kammerpräsi- dent blieb, aus der vordersten Linie zurück und überließ die pub- lizistische und juristische Auseinandersetzung einem kämpferi- schen Jungarzt aus angesehenem Hause, nämlich Dr. Franz Rhomberg, von dem noch ausführlich die Rede sein wird. Auf die Ausschreibung der drei Kassenarztstellen meldeten sich die Ärzte Dr. Maximilian Hartmann und Dr. Paul Prager, beide aus Innerösterreich,„und leider auchDr.Arthur Schneider“ 24 , wie Dr. Herburger mit Bedauern feststellte. Dr. Schneider stammte nämlich aus dem liberalen Adel, sein Vater war Textilfabrikant und etliche Jahre Vorsteher von Höchst und sein Onkel mit Dr. Herburger verschwägert. Den drei Ärzten wurde eine pauschale Gesamtsumme von 7.200 Gulden garantiert, daneben durften sie noch frei praktizieren. 25 Bereits im Sommer 1897 begannen die Dornbirner Kassenärzte zu ordinieren und die Bregenzer Kassen zeigten sich entschlossen, ebenfalls Kassenarztstellen auszuschreiben. Einer Ausschreibung in Feldkirch kamen die Ärzte mit einer stillschweigenden Tarifsenkung zuvor. 26 In Bregenz war die Stimmung gegen die Ärzte besonders aufgeheizt. In einer Mitgliederversammlung wurde „nach längerer Debatte, in der von einzelnen Rednern geradezu unqualifizierbare Ausfälle auf den ärztlichen Stand gemacht wurden“, 27 die Schaffung von zwei Kassenarztstellen beschlossen. Auf die entsprechende Ausschreibung meldeten sich nicht weniger als 35 Ärzte. Angestellt wurden schließlich ein einheimischer Arzt, nämlich Dr. Ferdinand Sinz, und der aus Niederösterreich stammende Dr. Ignaz Mazer. Die Harder Firma Jenny folgte mit der Bestellung von Dr. Martin Lewenhak als Betriebsarzt. Schon Jahre zuvor hatte die Kennelbacher Textilfabrik Schindler mit Dr. Siegmund Glaser einenBetriebskassenarzt, der zugleich alsGemeindearzt ordinierte, engagiert. Dr. Glaser stammte aus Deutsch Rust in Böhmen und kehrte nach einigen Jahren auch wieder ins böhmische Leitmeritz zurück. 28 Dr. Glaser, ein Bruder des berühmten Orientalisten Eduard Glaser, erwarb sich nicht nur durch seine umsichtige Freundlichkeit die Wertschätzung der Dorfbevölkerung, sondern auch durch eine spektakuläre Notoperation. Einem Wirt, der bei einer Streitschlichtung durch mehrere Messerstiche lebensgefährlich verletzt worden war, rettete er durch ent schlossenes und gekonntes Eingreifen das Leben. 29 In Dornbirn, dem Hauptschauplatz der Auseinandersetzung, ging die Ärztekammer nun mit Abhaltung eines Ehrenrates gegen die drei Vertragsärzte vor. Wegen unstandesgemäßen Verhaltens wurden diese zu einer Geldbuße von 200 Gulden verurteilt. Die Statthalterei beschied aber die Kammer, „daß es nicht in die Competenzfähigkeit des Ehrenrates falle, über derartige Angele- genheiten zu verhandeln.“ 30 Die Ärztekammer legte dagegen Re- kurs beim Innenministerium ein. „Dem Ausgang der Sache“, so eine Wiener Zeitung, „sehen die österreichischen Ärztekammern mit großer Neugierde und Beklommenheit entgegen.“ 31 Dem Mi- nisterium gegenüber argumentierte die Vorarlberger Kammer, dass die Entscheidung der Statthalterei die gesetzlichen Kompe- tenzen der Kammer beschneide und deren Ansehen gefährde. 32 Das Innenministerium beschied die Kammer allerdings, dass sie „ihren Wirkungskreis nicht nur mit der ehrenrätlichen Verurtei- lung der Dornbirner Kassenärzte überschritten hatte, sondern vor allem mit ihrem Beschluss, nur die freie Arztwahl zuzulassen.“ 33 Nach dieser juristischen Niederlage, die reichsweite Beachtung fand, schlugen die Vorarlberger Kammerfunktionäre, jetzt angeführt von Dr. Franz Rhomberg, neue Wege im Kampf gegen die Kassen ein: Über ihren Standeskollegen, den Dornbirner Bürgermeister Dr. J. G. Waibel, boten sie als Geste des Ent gegenkommens eine Verringerung der Besuchstaxe in denVierteln Markt und Oberdorf an und versuchten die vom Kassenkassier J. G. Luger vorgelegte Einsparungsrechnung für das erste Jahr der kassenärztlichen Tätigkeit als unkorrekt darzustellen. 34 Daneben ging die Kammer daran, die Kassenärzte „sowohl gesellschaftlich als auch beruflich zu boykottieren“ 35 . Besonders Dr. Mazer in Bregenz sollte ein Opfer dieser angekündigten Ächtung werden. Im April 1899 ließ Dr. Rhomberg eine Flugschrift „in scharfer Sprache“ 36 verteilen, in welcher er den Krankenkassenvorständen unverantwortliches Handeln bei der fachlichen Auswahl der Kassenärzte vorwarf, deren Qualifikation besonders in chirurgischer Hinsicht anzweifelte und das pauschalierende System als gescheitert erklärte. 1685 Unterschriften von ArbeiterInnen, die mit der kassenärztlichen Versorgung unzufrieden seien, wurden als Beweis dafür vorgelegt. Eine Klage wegen Ehrenbeleidigung, die die angegriffenen Kassenärzte eingebracht hatten, wurde vom Bezirksgericht zurückgewiesen. 37 Nachdem aber die Ärzte von Bregenz und Dornbirn trotz ihrer kassenfeindlichen Agitation ihre Forderungen nicht durchsetzen konnten undmassive Einkommensverluste hinzunehmen hatten 38 , versuchten sie ab 1900 mit den Krankenkassen wieder ins Gespräch zu kommen. Der Zeitpunkt hatte damit zu tun, dass sich im Sommer 1901 die fünfjährige Laufzeit der Verträge der Kassenärzte um eine weitere Periode verlängert hätte. In einem öffentlichen Aufruf an die Kassen bot die Kammer an, „Schritte zu tun, welche geeignet sein könnten, obwaltende Mißhelligkeiten zu beseitigen und bestehende Zustände im Interesse der Kassen, ihrer Mitglieder und der Ärzte zu verbessern.“ Grundlage für ein solches Gespräch sollte der Tarif von 1897 und die „Aufrechterhaltung der Ärztewahl“ sein. 39 22 Zu Dr. Herburger siehe Franz Kalb (Hg.), Die Selbsbiographie eines Dornbirner Arztes: Dr. Leo Herburger. In: Dornbirner Schriften XI/1991, 115-133 und XIII/1991, 46-76; zu J. G. Luger siehe Alexander Seewald, J. G. Luger, Gründer und ältestes Mitglied des Vorarlberger Turngaues. In: Heimat 1930, 271-274. 23 Dornbirner Gemeindeblatt 7.3.1897, S. 32. 24 Kalb (wie Anm. 22), XIII, 69. 25 VLZ 23.2.1897. 26 VV 17.11.1897. 27 VLZ 5.4.1897. 28 Prager Tagblatt 4.11.1913. 29 VLZ 20.5.1890. 30 Deutsches Volksblatt (Wien) 20.1.1898. 31 Ebenda 32 Grandner (wie Anm. 11), 96. 33 Ebenda 34 Siehe FZ 17.5.1899. 35 Bischof (wie Anm. 14), 522. 36 Vorarlberger Tagblatt 22.4.1899. 37 VV 16.4.1899. 38 Dr. Leo Herburger stellte in seinem Lebensrückblick fest, dass seine Praxis seit der Einführung der Kassenärzte „nichts mehr“ gewesen sei. Siehe Kalb (wie Anm. 22), XIII, 69. 39 FZ 5.1.1901. 12 | ARZT IM LÄNDLE 03-2019
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