AIL Mai 2019
AUS DEM VISIONSPROZESS Dr. Ignaz Mazer wurde in Bregenz also auf zwei Ebenen be- kämpft: Von den christlichsozialen und deutschnationalen Antise- miten, weil sie in ihm einen Juden ausgemacht hatten; und von der Ärzteschaft, weil sie ihre geschlossene Front gegen die Kran- kenkassen durchlöchert glaubten. Innerhalb nur eines Jahres hat- ten die Judenfeinde und Ärzte die gesellschaftliche Reputation des Dr. Mazer mit öffentlichen Anwürfen und hinterhältigen Diffa- mierungen zerstört. Nur durch seine vorbildliche ärztliche Tätig- keit konnte er sich all dieser Widerwärtigkeiten und Anfeindun- gen zum Trotz einen Kundenstock aufbauen, der ihm auch nach der Auflassung des Kassenvertrages ein Auskommen sicherte. Die ihm ohne Vorurteil begegneten, beschrieben Dr. Mazer als „gewis- senhaften, tüchtigen und friedliebenden Arzt“. 22 Was ihn aber bei der Kollegenschaft über den Kassenvertrag hinaus verdächtig machte, waren seine volksbildnerischen Vorträge zu medizini- schen Themen wie gesundheitliche Prophylaxe, Hygiene und erste Hilfe. Das war ärztliches Neuland in der Kleinstadt, ein Hauch medizinischer Moderne. Es würde hier zu weit führen, alle Details auszubreiten, die am Jahresende 1901 zur Aufgabe des Kassenarztprinzips durch die Bregenzer Krankenkassen führten. Nur so viel: Als der Kassenarzt Dr. Sinz im Herbst 1901 verstarb, kam es zu einer Diskussion, ob man die Stelle nachbesetzen sollte. Ein Kompromissangebot an die niedergelassenen Ärzte wurde von der Kammer abgelehnt, wo- rauf sich die Kassen zu einer Neuausschreibung entschlossen. Da- rauf meldeten sich 20 Ärzte, zum Teil hochqualifizierte. 23 Als die Bregenzer Ärzte davon erfuhren, unterbreiteten sie den Kassen ein Angebot mit reduzierten Tarifen bei freier Arztwahl. Zwar er- kämpfe Direktor Iselin noch einmal eine knappe Mehrheit für das Pauschalsystem, die Geschlossenheit der Kassen kam aber ins Rut- schen. Ausgerechnet die Allgemeine Arbeiterkrankenkasse, die 1896 am lautesten nach der Pauschalierung gerufen hatte, scherte nun aus und traf eine Vereinbarung mit der Ärzteschaft. Darauf- hin trat Gustav Iselin als Obmann der Kassen Vereinigung zurück und nahm auch die Betriebskrankenkasse der Firma Mauthe aus dem Verband. Dem bereits für die zweite Kassenstelle ausgewähl- ten Wiener Arzt musste er absagen. Wieder hatten die Ärzte anti- semitische Anwürfe gegen Dr. Mazer in dieser Auseinanderset- zung vorgebracht. Angesichts dieser Situation, „hat Herr Dr. Ma- zer,“ so die um Objektivität bemühte Landes-Zeitung, „des leidi- gen Haders müde, der sich in letzter Zeit sichtlich weniger um das ‚Prinzip‘ als vielmehr um seine Person drehte, die Stelle als Kas- senarzt der vereinigten Krankenkassen zurückgelegt.“ 24 Die genos- senschaftliche Krankenkasse der handwerksmäßigen Gewerbe, welche die Vereinigung ebenfalls mit Direktor Iselin verlassen hat- te, bedankte sich bei Dr. Mazer für „seine geleisteten guten Diens- te“ mittels Zeitungsinserat. 25 Dr. Mazer ordinierte von nun an als freier Arzt und verlegte Wohnung und Praxis ins Haus Sagmeister, Römerstraße 10. Hier wurde im Juli 1904 das einzige Kind des Ehepaares geboren und in der Stadtpfarrkirche zu Ehren der er- mordeten Kaiserin auf den Namen Elisabeth (Elsa) getauft. Die Arzttochter erwies sich in den folgenden Jahren als sehr begabtes Kind. Ab ihrem elften Lebensjahr wurde sie bei den Abschlusskon- zerten der Bregenzer Musikschule jeweils als talentierteste Schüle- rin gelobt. Im Bregenzer Gymnasium, das nur Knaben zugänglich war, legte sie bis 1925 als erste Externistin die Jahresprüfungen er- folgreich ab. 26 Seit 1930 lebte sie als Musikerin in Deutschland, nachdem sie einen Handelsvertreter namens Bauer geheiratet hat- te. Als der Druck der Nationalsozialisten auf so genannte Arier, die mit Jüdinnen verheiratet waren, zunahm und die Bregenzer NS- DAP-Parteileitung mit einem Entzug des Gewerbescheins drohte, ließ sich Bauer 1941 von Elsa Mazer scheiden. 27 Diese lebte nun wieder bei ihrer Mutter in Bregenz. In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg scheint sich Dr. Mazer nicht nur das Vertrauen weiter Teile der Arbeiterschaft erworben zu haben, sondern auch einen ausgezeichneten Ruf als Unfallarzt. Bei einer Reihe schwerer Verletzungen wurde nach ihm gerufen: So bei einem tragischen Zugsunglück der Wälderbahn mit zahl- reichen Verletzen im Jahr 1908; bei einer Explosion in der Löwen- apotheke, bei der ein Laborant schwere Gesichtverletzungen erlitt, sowie bei einem Verkehrsunfall wegen eines scheuenden Pferdes 1912 in der Kirchstraße mit mehreren Verletzten. Schließlich re- animierte er ein Schweizer Dienstmädchen, das aus Liebeskum- mer in den Bodensee gesprungen war. 28 Besonders während des Ersten Weltkriegs stellten sich Dr. Ma- zer und seine Frau Sophie wie keine andere Bregenzer Arztfamilie in den vaterländischen Dienst. Frau Mazer engagierte sich mit Be- ginn des Krieges im Frauen-Hilfskomitee, führte Sammlungen für die Soldaten im Felde durch und organisierte zusammen mit ih- rem Mann Weihnachtsfeiern für die verwundeten Soldaten im Bregenzer Reservespital. 29 Dort war Dr. Mazer die gesamten Kriegsjahre hindurch in unermüdlichem Einsatz und seit 1915 Chefarzt. 1916 wurde er dafür mit dem „Ehrenzeichen vom Roten Kreuz mit Kriegsdekoration“ ausgezeichnet, nachdem er eine schwere Infektionskrankheit überstanden hatte. 30 Nach dem Krieg wurde Dr. Mazer zum Vertrauensarzt für das neu geschaffene Invalidenbüro bestellt, das die Entschädigungsan- sprüche der versehrten Kriegsheimkehrer festzusetzen hatte. 31 Im April 1919 beschloss der Stadtrat, die Familie Mazer in den Bre- genzer Heimatverband aufzunehmen. 32 Das Ehepaar Mazer war seit November 1918 staatenlos gewesen, nachdem die Geburts- stadt Lemberg an Polen gefallen war. Die Anerkennung, die sich der Arzt aus Galizien und seine Frau durch ihren Kriegseinsatz erworben hatten, wirkte noch eini- ge Jahre nach. Der neuerliche Ausbruch gezielter Hetze gegen jü- dische LandesbürgerInnen, blieb Dr. Mazer erspart. Im August 1923 lief ihm auf der Fahrt zu einem Patienten ein streunender Hund ins Fahrrad. Dr. Mazer stürzte und verletzte sich erheblich. 33 Zwar konnte er imHerbst seine Praxis wieder auf- nehmen, blieb aber so geschwächt, dass er am 10. Mai 1924 ver- starb. Das antisemitische Vorarlberger Volksblatt, das den zugezo- genen Arzt bis Kriegsbeginn systematisch denunziert und gede- 22 Br TB 5.2.1899. 23 VLZ 16.11.1901. 24 VLZ 7.12.1901. 25 VV 31.12.1901. 26 Siehe Meinrad Pichler, Von der Bildungsburg zur gläsernen Schule. Hundert Jahre Gymnasium an der Gallusstraße (1913-2013). In: 100 Jahre BG Gallus. Ein Haus. Zwei Schulen, Bregenz 2013, S. 10-30, hier S. 19. 27 VLA, Landrat Bregenz 123/1/1. 28 Br TB 21.9.1911. 29 VLZ 28.12.1914; VV 28.12.1915. 30 VV 12.11.1916. 31 VV 29.11.1919. 32 Stadtarchiv Bregenz, Heimatsachen 834. 33 VLZ 17.8.1923. 10 | ARZT IM LÄNDLE 05-2019
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