AIL Mai 2019

AUS DEM VISIONSPROZESS Dr. Ignaz Mazer (1860–1924) und der Antisemitismus Ein Besuch in der Geschichte der eigenen Profession kann Gegebenheiten der Gegenwart bewusster machen, die Wurzeln mancher aktuellen Probleme freilegen, mögliche Sack- gassen aufzeigen und den Blick für die Zukunft schärfen. Ein kritischer Rückblick dient einer verantwortungsvoll planenden Vorschau. Als die Vorarlberger Ärztekammer im Jahr 1896 die allgemeinen Tarife für ärztliche Leistungen erhöhte, protestierten die Kranken- kassen gegen diese einseitige Vorgehensweise. Die vereinigten Kas- sen von Dornbirn und Bregenz entschieden sich dafür, eigene pauschalierte Kassenärzte zu beschäftigen. Die Ärztekammer, die die freie Arztwahl samt direkter Abrechnung mit den PatientIn- nen als unverrückbares Element ihres Standes erachtete, drohte je- nen Ärzten, die solche Kassenverträge abschlossen, mit berufli- chem und gesellschaftlichem Boykott. Aus der Vorarlberger Ärzte- schaft waren denn auch nur Dr. Arthur Schneider in Dornbirn und Dr. Ferdinand Sinz in Bregenz bereit, im Auftrag der Kassen zu arbeiten. So gingen die vereinigten Kassen dazu über, die Kas- senarztstellen österreichweit auszuschreiben. 1 Daraufhin bewar- ben sich ausschließlich Ärzte aus Wien. „Jüdische“ Ärzte Durch die Verfassungsgesetzgebung von 1867 und das interkon- fessionelle Gesetz von 1868 „traten die österreichischen Juden un- widerruflich in die bürgerliche Welt der liberalen Epoche ein.“ 2 Eine Möglichkeit, der oft bedrückenden Welt des elterlichen Kleinhandels in den östlichen Reichsteilen zu entwachsen, war Bildung. Dabei mussten junge Männer jüdischer Herkunft auch bei bester Ausbildung die Erfahrung machen, dass ihren Aufstiegs- hoffnungen im öffentlichen Dienst und an den Universitäten kaum ausgesprochene, aber spürbare Hindernisse entgegenstan- den. Ab etwa 1880 begannen sich Deutschnationale und Christ- lichsoziale in ihrem Antisemitismus lauthals zu überbieten. Einer der Hauptangriffspunkte der Antisemiten bildete „der Überschuss jüdischer Intelligenz“ 3 , vorgetragen aus konkretem Karriereneid, aus ideologisch gesteuerter Angst vor Bildung oder aus dumpfem Rassismus. Die günstigsten Berufschancen für gut ausgebildete Ju- den boten sich in den so genannten freien Berufen, also als Rechts- anwälte und Ärzte. Auch im Kulturbetrieb und im Journalismus, wo der Wettbewerb ein relativ offener war, konnten sie reüssieren. Gerade aber in den Universitätsstädten Wien und Prag kam es in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts zu einem Überange- bot an Medizinern mit jüdischem Hintergrund. Sie waren meist die ersten, die bei öffentlich ausgeschriebenen Spitals- und Ge- meindearztstellen zurück gereiht wurden. Die gläserne Decke er- wies sich als relativ undurchlässig. Um ihre beruflichen Möglich- keiten und ihren gesellschaftlichen Status zu verbessern und ihre Assimilierung offiziell zu machen, traten allein in Wien in den Jahren zwischen 1868 und 1914 gut 18.000 Personen mosaischen Glaubens zu einer christlichen Konfession über. 4 Nahezu ein Drit- tel dieser KonvertitInnen verfügte über eine höhere Schulbildung beziehungsweise über einen akademischen Abschluss. Von den Ausgetretenen des Jahres 1900 schlossen sich die Hälfte der katho- lischen Kirche an, je ein Viertel ging zur protestantischen Konfes- sion oder in die Konfessionslosigkeit. 5 Der Austritt aus der jüdi- schen Kultusgemeinschaft bildete auch die Voraussetzung für eine Namensänderung. Für die Antisemiten, die zunehmend rassistisch argumentier- ten, bedeuteten diese Übertritte aber keineswegs eine Vorleistung zur Assimilierung, sie sahen darin vielmehr die Gefahr, dass die von ihnen gezogenen Grenzlinien aufgeweicht werden könnten. So wie 50 Jahre später die so genannten Nürnberger Gesetze der Nationalsozialisten die „Juden und Jüdinnen“ nach ihrer familiä- ren Herkunft und nicht nach ihrer Glaubenszugehörigkeit defi- nierten, so taten es im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts auch schon ihre geistigen Väter. Diese konnten noch keine Ahnenpässe einfordern, nährten ihr Vorurteil deshalb an Indizien. Als solche galten ihnen Namen und Herkunft der Bezichtigten. Dr. Ignaz Mazer in Bregenz Neben dem bereits genannten Dr. Ferdinand Sinz, der als Stadt- und Bahnarzt bereits pauschalierte Verträge mit Institutionen hat- 1 Zur Kassenproblematik siehe Meinrad Pichler, Ein Kassenkampf. In: JB des Vorarlberger Museumsverein 2017, S. 2 Wolfgang Häusler, Toleranz, Emanzipation und Antisemitismus. Das österreichische Judentum des bürgerlichen Zeitalters (1782-1918). In: Anna Drabek u. a., Das österreichische Judentum. Voraussetzungen und Geschichte, Wien 1974, S. 83-140, hier S. 107. 3 Ebenda 105. 4 Anna L. Staudacher, „ ... meldet den Austritt aus dem mosaischen Glauben“. 18000 Austritte aus dem Judentum in Wien, 1868–1914: Namen, Quellen, Daten, Frankfurt/Main 2009. 5 Astrid Schweighofer, Religiöse Sucher in der Moderne. Konversionen vom Judentum zum Protestantismus in Wien um 1900, Berlin/München/ Boston 2015, S. 71. Prof. Meinrad Pichler Der renommierte Historiker hat mit seinen Forschungen und Publikationen einen zentralen Anteil an der Aufarbeitung der Vorarlberger Landesgeschichte Foto: A. Serra 8 | ARZT IM LÄNDLE 05-2019

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