Für ein heilsames Miteinander - Buch 1: Expedition in neue Felder

174 175 wirst Glück erfahren, dachte ich. Was bedeutet das alles? Bedeutet „öffne deinen Geist“ vom linearen Denken zum zirkulären Denken zu finden, wie Frederik Vester schon vor Jahrzehnten forderte? Bedeu- tet „öffne dein Herz“ den anderen im Sinne der Reziprozität wahr- zunehmen, indem ich dich berühre, fühle ich mich selbst berührt? Bedeutet „open your will“ den Willen zu entwickeln, das neurophysio- logische Phänomen der Propriozeption (Eigenwahrnehmung) auf das Denken auszuweiten, und somit zu erkennen, dass alle Meinungen Sinn machen, dass wir unsere eigene daher in Schwebe halten, um zu einem partizipierenden Bewusstsein zu kommen und somit zu neuen Lösungen (Schwarmintelligenz)? Kommt Heil aus dem Verzicht auf Rechthaberei? Kommt Segen aus der Wahrnehmung des anderen als Spiegel (Spiegelneuronen)? Kommt Glück daher, dass ich mich als Teil verstehe? Das Ganze ist immer mehr als die Summe seiner Teile, das wusste schon Aristoteles. Dorthin wollen wir, zum Ganzen, zum ge- meinsamen Denken. Der Weg dorthin führt über das offene Gespräch, den Dialog, da bin ich sicher. Doch: Wie sagt man das alles ganz kurz? Ich notierte drei einfache Wörter. Eine Weile starrte ich auf den vollgekritzelten Zettel, dann wurde mir klar, dass ich da mitunter den Schlusssatz meines erst noch zu erstellenden Textes über eine erst noch abzuhaltende Veranstaltung geschrieben hatte. Ich schüt- telte meinen Kopf. Am Text allerdings änderte ich nichts mehr. Einen sogenannten Beweis für meine Vermutung würde ich erst vier Tage später erhalten. Dieses Mal (20. | 21.11.2015) fand die Tagung nicht in einem alten Schlösschen, sondern in einem Altersheim statt. Waren wir von einem Traum in eine Realität geplumpst? Auf jeden Fall waren wir von der Vergangenheit in die Zukunft gefallen, dachte ich, als ich ein miesgrimmiges Gesicht erblickte, das mich gleich neben dem Ein- gang anstarrte. Ich hatte Probleme mit der Tür – ich ließ eindeutig zu lange die Kälte ins Foyer einziehen. Ich war verwirrt und stammelte „Entschuldigung“ und „Grüßgott“. Der Mann hörte wohl nur „schuld ist Gott“ dachte ich hinterher, weil er mich noch grimmiger ansah. Ande- rerseits widersprach er aber auch nicht. Der Saal war wieder im Kreis bestuhlt (was für ein Satz!). Die Mitglieder des Kernteams und des Ernteteams begrüßten einander. Gemeinsam versorgten wir als erste Aktion die aufgetischten Bröt- chen in den Speisesaal. Das tat mir ehrlich leid, denn ich hatte noch nicht gegessen. Dann steckten wir uns wieder die Dr.-losen Namenskärtchen an. „Jetzt hat man dich mit e geschrieben“, meinte Karin Metzler, „das tut mir ehrlich leid.“ „Das macht nichts“, antwortete Frank Mätzler, „ich weiß, wer ich bin.“ Kurz beneidete ich ihn, ich bin mir jeden Moment eine andere. Michael Jonas meinte, es würde wohl schwierig werden, „an den Frühling anzuknüpfen“. Ich musste lächeln, am Tag zuvor hatte ich noch Pusteblumen im Ried gesehen, jetzt hatte es draußen die ersten Minusgrade. „Die Freude ist in den Menschen abgespeichert“, antwortete ich, „in diese Freude einzutreten, ist leicht.“ Ich wunderte mich nicht, als ich jeden einzelnen bei seiner Ankunft herzlich lächeln sah, und das obwohl jeder hier ehrenamtlich seine Freizeit zur Ver- fügung stellte. Schade war nur, dass ein paar der Ärzte krank waren, und manchen, so hörte ich, war es nicht gelungen, ihre Nachtdienste zu verschieben. Manche Stühle blieben daher frei und aus dem Kreis wurde beim Zusammenrücken ein ziemliches Ei. Ich hoffte, dass unse- re Töne am Ende des Abends nicht ebenso leierten. Michael Jonas begrüßte die buntgemischte Runde mit einem Zitat: „Je mehr sich der Einzelne zurücknimmt, umso mehr verkommt die Gesellschaft.“ Über seinem Kopf schwebte wie zur Verstärkung dieser Einstellung an einer langen Stange Hansjörg Kapellers Mikrofon. Wenn sich mir solche Szenen einprägen, forsche ich hinterher nach: Warum ist mir das Mikrofon in diesem Moment ein Symbol? Das Kontaktmikrofon wurde von Philipp Reis nach dem Modell der Ohrmuschel erfunden und in sein „Telephon“ eingebaut. Jeder einzelne von uns ist eine Schallwelle, die die Membran im inneren des Mikrofons zum Schwingen bringt, denkt es mir, und jeder einzelne ist zugleich Teil des Schalltrichters. Unser Dialog hier ist der Kontakt in der Membran, der den Kontakt im Gehäuse (= Gesellschaft) gera- de noch berührt, denke ich. Über diesen Kontakt und einen äußeren Widerstand wird Gleichstrom geleitet . Ich muss lächeln, als ich diesen Satz lese. Der äußere Widerstand, ohne ihn kommt nichts in Bewe- gung, ohne ihn gibt es keine Verstärkung. Damit jede Stimme einmal gehört wurde, stellte sich jeder Teilnehmer kurz mit einer Qualität vor, die er an diesen zwei Tagen einbringen würde. Als Brigitta Soraperra fragte, ob es in Ordnung sei, dass sie für das Protokoll manchmal Tonaufnahmen mache, klingelte ein Telefon. Und weil es auch sonst noch Störgeräusche gab, legte die Anästhesistin kurzerhand den Kühlschrank in stromlosen Schlaf. Sein aufbäumendes Rütteln ging durch den Raum: Tatkraft, Phantasie, Lust, Inspiration, Wille zur Veränderung, Wille zur Wahrnehmung und Be- wegung als Virus wurden als einzubringende Qualitäten benannt. Der Kühlschrank hatte nichts mehr zu melden. Während der Beschreibung der bevorstehenden Arbeitsin- halte – Identität, Soziales Gestalten, Politisches Gestalten – wird sehr aufmerksam zugehört, sollen sich doch alle danach auf diese drei Arbeitsgruppen aufteilen. Ehrlich, ich seufze, als ich feststelle, dass ich gebeten wer- de, bei der politischen Gestaltung mitzudenken. Die Gruppe ist zum einen männerlastig und zum anderen medizinerlastig. Herz versus Poetische Dokumentation Poetische Dokumentation

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