Für ein heilsames Miteinander - Buch 2: Feldstecher

148 149 Visionsklausur der Ärztekammer für Vorarlberg – ein Stimmungsbild Mit dem Ziel sich zukünftig stärker in einem gesundheitspolitischen Dialog zu engagieren hat die Ärztekammer schon im April 2015 ihre Mitglieder zu einem Visionstag geladen. Auf Grundlage der damaligen Ergebnisse wurden nunmehr im Rahmen einer Visionsklausur am 20./21. November 2015 konkrete Umsetzungs- schritte erarbeitet Auch die Klausur war - wie schon der Visionstag - von einem offenen und sehr innovativen Geist geprägt und wurde wiederum vom Prozess- entwicklungsbüro Metzler/Partner gemeinsammit einem Kernteam der Ärzte- kammer professionell begleitet. Die Schriftstellerin Gabriele Bösch hat ein berührendes, persönliches literarisches Doku- ment verfasst, das die Atmosphäre und den Geist dieser Tage nacherleben lässt. Auszüge daraus finden sie in nachstehendem Artikel. Das gesamte literarische Protokoll von Gabriele Bösch können Sie auf der Homepage der Ärztekammer für Vorarlberg unter www.arztinvorarlberg.at (News-Medien/Visionstage) nachlesen. Sobald die umfangrei- che Dokumentation der Visionsklausur fertig gestellt ist, werden wir Sie über die Ergeb- nisse informieren und laden Sie zur weiteren gemeinsamen Arbeit ein. AUSZÜGE AUS DEM STIMMUNGSBILD von Gabriele Bösch Die erste Visionsklausur im April fand in einem Schlössle statt, die zweite im November in einem Altersheim. Waren wir von einem Traum in eine Realität geplumpst? Auf jeden Fall waren wir von der Vergangenheit in die Zukunft gefallen, dachte ich, als mich gleich am Eingang ein alter Herr miesgrimmig anblickte. Ich war verunsichert. Lächeln konnte ich dann, als ich Michael Jonas begegnete, der meinte, es würde wohl schwierig werden, „an den Frühling anzuknüpfen“. Am Tag zuvor hatte ich im Ried noch Pusteblumen gesehen, jetzt hatte es draußen die ersten Minusgrade. „Die Freude ist in den Menschen abgespeichert“, antwortete ich, „in diese Freude einzutreten ist leicht.“ Ich wunderte mich daher nicht, als ich jeden einzelnen Ankommenden herzlich lächeln sah, und das, obwohl alle hier ihre Freizeit zur Verfügung stellten. Schade war nur, dass ein paar der Ärzte krank waren, so wurde aus dem Stuhlkreis beim Zusam- menrücken ein ziemliches Ei. Jeder Teilnehmer stellte sich zu Beginn mit einer Qualität vor, die er an diesem Abend einbringen wollte. Da die Hintergrundgeräusche störten, legte die Anästhesistin kurzerhand den Kühlschrank in stromlosen Schlaf. Sein aufbäumendes Rütteln ging durch den Raum: Tatkraft, Phantasie, Lust, Inspiration, Wille zur Veränderung, Wille zur Wahrnehmung und Bewegung als Virus wurden als einzubringende Qualitäten benannt. Der Kühlschrank hatte nun nichts mehr zu melden. Rund 50 Menschen – Ärzte und Menschen aus anderen Verantwortungsbereichen – hatten im April mit viel Freude und Elan Ideen und Visionen erarbeitet, die für mich wie die Früchte eines noch zu definie- renden Baumes wirkten. Es gilt nun, diesen Weg von den Wurzeln bis zu den Früchten auch tatsächlich zu gehen, und zwar durch alle Jahreszeiten hindurch. Aus all dem bis- lang zusammengelegten Material ließen sich drei Versorgungsbahnen dieses Baumes definieren: Die eigene Identität gestalten Das bedeutet u.a.: Die Freude, in Vorarlberg Arzt zu sein, nährt sich aus dieser Versorgungsbahn, aus unserem Baum sprießen viele und neue Äste. Die Soziale Gestaltung Das bedeutet u.a.: Die notwendige Umkehr zu Selbstverantwor- tung und Selbstkompetenz speist sich aus dieser Versorgungs- bahn und lässt unseren Baum Blüten treiben. Die Politische Gestaltung Das bedeutet u.a.: Die soziale Gestaltung wird in Strukturen gefasst, die Ärztekammer kann Impulsgeber für die zivilgesell- schaftliche Bewusstseinsentwicklung sein – aus unseren Blüten werden Früchte. Während dieser zweiten Klausur nun sollen wir konkrete Schritte zur Umsetzung dieser Erkenntnisse entwickeln. In drei Grup- pen arbeiten wir höchst intensiv. Die Ärzte, stelle ich fest, sind äußerst selbstkritisch unterwegs, sie ernten erneut meine ganze Hochachtung. Am Ende dieses ersten Abends stellen wir das Er- arbeitete im Plenum vor. Da fällt jenes Wort in mein Bewusstsein, das mich zutiefst berührt: Traumberuf. An ihm bin ich geschei- tert, aber seinetwegen nehme ich hier Teil. Um ihm nachzuspü- ren, nehme ich den Begriff mit in den Ton, den wir als Abschluss gemeinsam singen. Ein Teppich aus vielen Höhen und Tiefen entsteht. Das ist Klang. Der nächste Tag beginnt mit einer Wahrnehmungsübung. Ohne zu sprechen gehen wir langsam durch den Raum. Dann wird das Tempo erhöht. Bald kann ich niemandemmehr ins Ge- sicht sehen, mein Blick verhakt sich in den Rücken der vor mir gehenden Menschen. Mir wird völlig klar, warum es in einem solchen Visionsprozess die Verlangsamung braucht, zu schnell verliert man sonst das gemeinsame Ziel aus den Augen, Be- gegnungen finden nur mehr gezielt statt und verfälschen das Gesamtbild. Ich finde es wunderbar, dass die Soziologin Petra Wähning im Anschluss an genau diese Übung ihr Impulsreferat hält. Sie spricht über die „Zeit der Masken“. Kampagnen bauten auf dem auf, was die anderen hören wollen und nicht auf dem, was man ist und vertritt. Zudem seien die meisten Menschen nur mit einem Sechzehntel ihres Potenzials unterwegs. Sie fordert uns auf, die Schwarmintelligenz zuzulassen. Und genau das tun wir für den Rest des Tages. Schriftstellerin Gabriele Bösch In der Mittagspause fährt mir ein alter Herr im Rollstuhl vor die Beine. Ich verstehe nicht, was er will und lege daher mein Ohr an seinen Mund. Er will, dass ich ihn berühre! Ich bin schon wieder verunsichert. Eine alte Frau ruft: Geht weg, ihr stört! Ja, wir bringen hier den gemächlichen Ablauf durcheinander und sind nicht einmal für Berührungen bereit, denke ich. Und doch finde ich es gut, dass wir genau hier an diesem Ort sind, das Alters- heim und seine Bewohner bringen mir die geforderte Verlang- samung im Visionsprozess hörbar, sichtbar und fühlbar noch einmal näher. Nach der Mittagspause interviewe ich ein paar Teilnehmer, dadurch verliere ich ein bisschen den Überblick, was im Ent- scheidungsraum geschieht. All das erarbeitete Material wird dort vorgestellt, Anmerkungen und Vervollständigungen dürfen gemacht werden. Und dann stimmen wir anhand von Punkten für jene umzusetzenden Schritte, denen wir Priorität zumessen. Für kurze Zeit ist ein Unmut greifbar im Raum, er macht mich nervös, weil ich nicht genau mitbekommen habe, wo er seinen Ursprung nahm. Und doch, wenn man neue Wege auf neue Art beschreitet, müssen auch Unmut und Enttäuschung ihren Platz bekommen. Für einen gemeinsamen Weg müssen alle mitgenommen werden. Dann wird von den Prozessbegleitern Karin Metzler und Kuno Sohm ein neues Strukturmodell für die Umsetzung der einzelnen Projekte vorgestellt. Es entstehen so verschiedene Arbeits– bzw. Entwicklungskreise, die für alle Kammermitglieder offen sind. Alles, was noch auf der Seele liegt, kann in der Abschluss- runde formuliert werden. Und da entwickelt es sich vor meinen Augen: das gegenseitige Vertrauen, das für mich den Arztberuf zu einem Traumberuf macht. Ich stelle den Blumenstrauß wieder in die Mitte und lege das Papierblatt dazu, auf dem ich in wenigen Worten zusammengefasst habe, wie ich die bisherigen Visions- tage erlebt habe: Hirn. Herz. Hand. Ärztekammer. Für ein heilsa- mes Miteinander. Ich blicke in die Runde. Hier wirken Menschen aus den unterschiedlichsten Berufsfeldern mit den Ärzten zu- sammen. Ich weiß, der Weg ist schwer. Aber ich weiß auch, dass diese Ärzte, die hier sitzen, selbst dann noch Leben retten wer- den, wenn das Gesundheitssystem zusammengebrochen sein sollte. Sie haben einen Eid geschworen. Vielleicht ist es dieser Eid, der ihnen diese schwere Ehre auflädt, jetzt schon Entwicklungen im Voraus zu begreifen und mit zu lenken, damit es eben nicht zu einem Kollaps kommt. Das ist mehr als das, was wir gewöhnlich unter Vorsorgemedizin verstehen. Das ist Vorsorgemedizin in cultus atque humanitas. — — — Von den rund 30 TeilnehmerInnen wurden Erkenntnisse und Erfahrungen aus den Themenkreisen in dialogischer Haltung ausgetauscht. Aus der Kammer Arzt im Ländle 01-2016 Arzt im Ländle 01-2016

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