Für ein heilsames Miteinander - Buch 1: Expedition in neue Felder
170 171 EINE POETISCHE DOKUMENTATION Von Gabriele Bösch Immer öfter lasse ich mich auf Aufträge ein, von denen ich gar nicht von vornherein weiß, ob ich sie bewältigen kann oder ob sie mich überwältigen werden. Ob das verrückt ist? Wahrscheinlich. Ver-rückt im Sinne der üblicherweise existierenden Strukturen in dieser Gesell- schaft: Ich kann nicht sagen, ob ich das kann, nehme aber trotzdem die Einladung an. Ver-rückt im Sinne der eigenen inneren Strukturen: Ich verlasse mich mehr auf die Intuition als auf mein Hirn. Es wäre ganz einfach, zu mir selbst zu sagen: Gabriele, du bist Schriftstellerin und du schreibst einfach einen Text über die Visionsklausuren der Ärztekammer, du hast ja teilgenommen. Gäbe es da nicht diese Vorge schichte, die besagtes Hirn betrifft. Ja, ich habe Medizin studiert, habe zwei Sezierkurse gemacht und bestanden, um dann bei der Anatomieprüfung durchzufallen – und das bereits beim Knochen. Damals war die Prüfung hierarchisch aufgebaut, der Knochen war die allererste Frage. DemWirbel hat eine Gelenksfläche gefehlt, das verwirrte mich, ich konnte ihn nicht bestimmen.Peinlichkeit vor hundert Zuhörern, die mir für Jahre in meine eigenen Knochen fuhr und sich dort in meiner inneren Struktur ausbreitete. Verknöcherung der Seele – so lautete meine eigene Diag- nose. Ich habe damals aufgegeben. Mein Gehirn funktioniert eindeutig nicht normal, sagte ich mir, dieses Studium ist zu schwer. Ein Traum war ausgeträumt. Ich fürchtete mich also ganz real vor der Wiederbelebung meines persönlichen Traumas, als die Einladung zur ersten Visions- klausur der Ärztekammer erfolgte. Ich würde all den Menschen be- gegnen, deren Gehirn sie sicher entlang ihrer Berufung zur Ausübung ihres Berufes geführt hatte. Was konnten die von mir wollen? War mein Herz ein Angebot? Meine Beherztheit? Ein bisschen, gestand ich mir ein, fühlte ich mich angesichts dieser Doktoren noch als Versager. Andererseits, dachte ich, wissen die nichts davon. Ich nahm die Einladung an, da es doch auch darum ging, dass sich die Ärztekammer letztendlich zumWohl aller Menschen wieder in den gesundheitspolitischen Dialog einbringen möchte – was ich ver- stehe, denn wenn ich das richtig betrachtet habe, sitzen in der diesbe- züglichen Landes-Zielsteuerungskommission eigentlich nur die Geld geber. Das ist ungefähr so, als wollte ich meinen Hühnern erklären, dass ich im Sinne der Gesundheit meiner Familie von ihnen glückliche Eier erwarte, dafür mit meinem Mann berate, in welches Futter wir investieren und gleichzeitig sperre ich den Stall zu und lasse sie nicht mehr in die grüne Wiese. (Veganer entbinde ich von dieser Analogie.) Mir scheint, für solcherlei Vorgehensweise sind die Probleme viel zu groß. Zu viele Ärzte gehen in den nächsten Jahren in Vorarlberg in Pension, es gibt nicht genügend Jungärzte, die diese Lücken füllen. Zu explodierend sind die Kosten für die Erhaltung der Gesundheit und die Gesundwerdung, das bestehende System wird vielleicht bald nicht mehr finanzierbar sein. Zu viele Ärzte sind zu sehr ausgelastet, sie können sich nicht mehr genügend Zeit für Patienten nehmen. Wir sind alle aufgerufen, darüber nachzudenken, sagte ich mir. Und ich verstand, was Einstein damit meinte, als er sagte, dass die Denkstruk- turen, die zu einem Problem führen, nicht geeignet sind, dasselbe zu lösen. Mir fiel das „Rattenproblem von Hanoi“ ein. Die Regierung dort antwortete auf das gesundheitsgefährdende Problem, indem sie eine Belohnung auf Ratten ausschrieb. Was war das Ergebnis? Die Men- schen begannen, Ratten zu züchten. Die Parallele lasse ich Sie selbst ziehen. Man könnte auch sagen, lineares Denken von A nach B inner- halb eines Problems führt nicht zu dessen Lösung. Es braucht eine Art zirkuläres Denken, eine Art interdisziplinäres, gemeinsames Denken, um neue Lösungsmodelle und die dafür erforderlichen Strukturen zu entwickeln. Die erste Tagung fand am 10./11. April 2015 in einem Schlössle statt. Ich war zunächst überrascht, als Namensschilder ausgegeben wurden, auf denen nur Vorname und Zuname stand. Kein Titel stand auf den Kärtchen, wir waren aufgerufen, einander zu duzen, auf Augenhöhe einander zu begegnen. Mir fiel ein Stein vom Herzen. Die Berufsfelder verteilten sich von Arzt | Ärztin über die Physiotherapeu- tin, die Spediteurin, den Unternehmer, die Schriftstellerin, den Anwalt, die Sozialarbeiterin, den Regisseur bis hin zur Biologin, um nur einige zu nennen. Um der Augenhöhe auch tatsächlich die physische Ent- sprechung zu geben, saßen wir im Plenum immer im Kreis. Alle diese Menschen bringen ganz spezifisch entwickelte Beobachtungsgaben und Erfahrungen aus ihrer Praxis und deshalb auch eine ganz eigene Sprache mit. In einer Diskussion käme es somit unweigerlich zu Missverständnissen, manchmal vielleicht zu Unver- ständnis, und je nach Redeflussvermögen sogar zu einem „Nicht-ge- hört-werden“ Einzelner. Damit das nicht geschieht, wurde von den Moderatoren der Dialog eingeführt. In der dialogischen Haltung einander zu begegnen bedeutet, in radikalem Respekt für den anderen zu bleiben, selbst von Herzen zu sprechen, aufmerksam hinzuhören, um zu verstehen (das heißt auch: nicht zu unterbrechen) und Meinungen in der Schwebe zu halten. Das bedeutet, Erkenntnisse, Erfahrungen, Fragen und Wünsche nebenei nanderzulegen, damit sie eine Wirkung erfahren. Wirkung braucht Zeit, das bedeutet Verlangsamung – aber erst dadurch kann aus dem Nebeneinander sich ein Miteinander heben: Und es ist diese Intelligenz des Miteinanders, die im Sinne Einsteins zukunftstragend sein wird. Es geht nicht länger um das Entweder-Oder, sondern um das Sowohl-als- auch. Es geht nicht entweder um das Wohl des Patienten oder um das Poetische Dokumentation Poetische Dokumentation ein anderer Zugang... Visionsklausuren der Ärztekammer 10./11. April 2015
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