Für ein heilsames Miteinander - Buch 1: Expedition in neue Felder

176 177 Hirn, denke ich, Langsamkeit versus Schnelligkeit, emotionale Radi- kalität versus sachliche Vernunft. Während ich vorwiegend langsam schweige, greift das Wort „versus“ in meinem Kopf. Mir fallen die zehn Zukunftsthesen des Collegium Helveticum an der ETH Zürich ein, die allesamt von der „versus-Formulierung“ ausgehen, doch statt des Ent- weder-oder das Sowohl-als-auch postulieren: Zukunftsthese 3: Vernunft versus Gefühl. Diese These beschreibt im Sinne des Sowohl-als-auch die „emotionale Rationalität“: Sowohl rein rationale wie rein emotionale Modelle stoßen an Grenzen: Multifaktorielle Erkrankungen sind nicht ohne Einbezug der Psyche zu verstehen, die Politik basiert auf einer Balance zwischen rationaler und emotionaler Entscheidungsfindung. Die Erkenntnis verlangt nach Konzepten, die rationale Modelle und emotionale Ansätze verbinden… Interdisziplinäre Forschungsgebiete wie die Neuropsychologie oder – ökonomie weisen den Weg in die Zukunft. Auf die Medizin bezogen: Ge- sundheit wird ganzheitlich definiert: körperliches wie seelisches Wohl entscheiden darüber, wer krank oder gesund ist. Die Berücksichtigung von Emotion eröffnet neue Behandlungskonzepte: Schmerzen, bspw., sind mit positiven Gefühlen einfacher tragbar. Während ich spürdenke, protokolliert man u.a. an der Tafel: Miteinander reden ist am billigsten. Zwiespalt: Wir sind Vertretung und Kontrollorgan zugleich. Alles Nebeneinander an Ärzten trifft sich beim Patienten – wer vertritt den Patienten im gesundheitspolitischen Dialog? (Die Patienten sind nicht organisiert vertreten) Jemand sagt: Wir haben die meisten Ärzte nach Griechenland und wir haben die meisten Krankenstände nach Griechenland, wir müssen eine eigene Versorgungsforschung betreiben. Soviel Selbstkritik, denke ich, und empfinde tiefe Wertschät- zung – ich kann die Schatten, über die man springen wird müssen, förmlich sehen. Vielleicht haben wir darum zuvor ein paar Lampen wegen der Blendung ausgeschaltet, so erscheint alles ein bisschen weicher für morgen. Zwischendurch verfallen wir wieder in die Dis- kussion, da kann ich schon gar nicht mithalten, weil ich einfach zu wenig über die Gesundheitsversorgungsstrukturen oder unterneh- merisches Denken weiß. Ich werde müde, einerseits soll ich hier mit- denken, andererseits soll ich die Stimmung wahrnehmen. Ich denke Hirn, Herz, Hand und möchte gerne aufrufen zu hirnrissig, beherzt und händisch. Laut kann ich nur sagen: Wenn ihr das alles, was da in- zwischen hinzugekommen ist, nach außen kommunizieren wollt, holt euch einen frechen Künstler, der das alles in neuen Farben, Tönen und Formen proklamiert. — — — Einen Künstler, der Kühlschränke anästhesiert, einen Künstler der den Stress der Ärzte zu einer Oper vertont, einen Künstler, der die Viertel- stunden-Todesdiagnosen-Zeit filmisch zu einem politischen Teppich webt – das allerdings denke ich schweigend. Als von Image-aufpolie- ren die Rede ist, schweige ich endgültig. Darum kann es nicht gehen, das sind alte Denkstrukturen. Ich fühle mich unfähig, diesen Zug, der jetzt auf Schiene ist, aufzuhalten. Ich tröste mich mit einer Erkenntnis aus der Quantenmechanik: Als Beobachtende nehme ich Einfluss auf den Versuch, obwohl ich gar nichts sage. Allein meine Haltung kann den Versuch beeinflussen. Zum Abschluss dieses Abends treffen sich alle wieder im Ple- num. Die Sprecher der einzelnen Gruppen stellen vor, was sie erarbei- tet haben. Nach dem Modell der Soziokratie wird gefragt, ob jemand noch etwas hinzuzufügen hat, oder ob alle mit dem bisherigen Ergeb- nis zufrieden sind. So viel Material steht auf den Flipcharts – das kann ich schreibend nicht alles festhalten, das kann ich in seiner Gesamt- schau noch nicht einmal alles erfassen. Ein Wort jedoch springt mir ins Auge: Traumberuf. Das berührte mich tief. Meine ganze Jugend hindurch war das Arzt-Sein mein Traumberuf gewesen. Ich bin daran gescheitert. 1998 hat mir ein Arzt eine Chance gegeben und mich als Arzthelferin eingestellt. Er war Wahlarzt, das war ein schönes Zusammenarbeiten. Als ich 2002 nach einer Karrenz wieder in die Ordination eintrat, hatte sich alles geändert. Inzwischen hatte er einen Kassenvertrag. Der Ter- minkalender explodierte und für mich wurde es zunehmend schwie- riger, am Telefon zu beurteilen, welcher Patient ein Notfall war und welcher nicht. Das Wort „Globusgefühl“ bekam eine neue Bedeutung. Seit dreißig Jahren habe ich Familie. Es gibt sechs Ärzte, die diese Familie durch die Jahre begleiteten. Fünf davon sind Wahlärzte. Das kostete – aber die Zeit, die sie für uns aufbrachten, war es mir tau- sendmal wert. AmWochenende anrufen zu dürfen, selbst in Amerika anrufen zu dürfen, im Urlaub. Das gab uns Sicherheit, Vertrauen in uns selbst, wir haben die Möglichkeiten kaum in Anspruch nehmen müs- sen. Und wo gibt es das denn noch, dass erwachsene Kinder trauern, weil ihre Hausärztin in Pension geht? Ihr umfassendes Verständnis für sie als Menschen war heilender gewesen als alle Medizin. Ich glaube, dieses gegenseitige Vertrauen ist es, was den Arztberuf zum Traum- beruf macht. Das Ende des Abends besteht aus dem gemeinsam gesunge- nen Ton – ein Teppich aus vielen Höhen und Tiefen. Das nennt man Klang. Am folgenden Tag steht nach der Begrüßung eine Wahrneh- mungsübung auf dem Programm. Wir sind aufgerufen, ohne zu spre- chen langsam durch den Raum zu gehen, um wahrzunehmen. Nach einer Minute sollen wir mit einem Zufallspartner ein Kurzgespräch Poetische Dokumentation Poetische Dokumentation

RkJQdWJsaXNoZXIy MTY1NjQ=