Für ein heilsames Miteinander - Buch 1: Expedition in neue Felder

178 179 führen. Meine Partnerin und ich sind uns einig: Wahrnehmung erfor- dert Verlangsamung. Solange wir schlendern, gehen wir kreuz und quer und sehen den begegnenden Menschen ins Gesicht, wir lächeln. Manchmal stoßen wir in der Langsamkeit auch aneinander – lachen und nicken einander zu. Als wir dann aufgerufen sind, schneller zu gehen, stelle ich fest, dass plötzlich alle im Kreis gehen. Einer geht hinter dem anderen her. Blicke treffen sich nicht mehr, sie verhaken sich im Rücken des Vordermanns. Ich sehe Menschen nur noch von hinten. Wenn alle schnell in eine Richtung gehen, fällt es sehr schwer, eine andere Richtung zu nehmen, man ist dem Strom ausgesetzt, man nimmt sich selbst nicht mehr wahr. Jemand sagt, „So sind wir im Krankenhaus unterwegs.“ Man darf nach dieser Übung annehmen, dass in dieser hastenden Menge niemand mehr weiß, was das Ziel ist. Ich finde es sehr schön, dass auf diese Übung ein Impuls- referat der Soziologin Petra Wähning folgt. Sie spricht über die „Zeit der Masken“ – Kampagnen bauen auf dem auf, was die anderen hören wollen, und nicht auf dem, was man ist und vertritt. Wenn man Zu­ kunft gestalten will (ohne dem vorhin erwähnten Strom zu erliegen), muss man sich selbst ermächtigen. Dazu gehört aber, sich bewusst zu machen, mit wieviel Kraftpotenzial man selbst unterwegs ist. Der Mensch ist mit Verstand und Gefühlen ausgestattet – die Gesellschaft lässt nur den Verstand zu: 50% unseres Potenzials liegen brach. Der Mensch ist mit weiblichen und männlichen Anteilen ausgestattet – die Gesellschaft lässt nur den männlichen zu: 50% von 50% des Potenzials liegen brach. Der Mensch ist spirituell und materiell ausgerichtet – für Spiritualität ist kein Platz: 50% von 25% unseres Potenzials liegen brach. Der Mensch träumt und handelt praktisch – für Träume ist kein Platz: 50% von 12,5% unseres Potenzials liegen brach. Wir sind demnach nur mit 1/16 unseres Potenzials unterwegs. Das muss so sein, denke ich, sonst wäre es auch wirklich schwierig, in hohem Tempo im Kreis zu gehen wie bei der Übung vorhin. Petra Wähning fordert uns auf, nicht die Schwächen zu schwä- chen sondern unsere Stärken zu stärken. Sie fordert uns auf, selbst- ermächtigt zu handeln, den Weg von der hierarchischen Planung zur Selbstorganisation einzuschlagen. Sie unterlegt diese Aufforderung mit der Geschichte der Ent- stehung des Krankenpflegemodells nach Jos de Blok in Holland, das inzwischen 9000 Mitarbeiter hat und 40% effizienter als die Konkur- renz arbeitet, und das darum, weil die einzelnen Pflegeteams selbst- organisiert mit Sozialarbeitern, Psychotherapeuten, Ergotherapeuten und psychiatrischen Pflegern zusammenarbeiten und zudem das GPs und eine eigene Internetplattform zur Vernetzung benutzen. „Wir teilen alle dieselben Werte“ ist ihr Motto, und „Profis muss man nicht kontrollieren“ ist Jos de Bloks Motto. Die Beziehungen untereinander basieren auf Vertrauen und Respekt. Die Schweiz interessiert sich längst für dieses Modell: http://www.interprofessionalitaet.ch/uploads/media/De_Blok_Arti- kel_1_01.pdf Während vorne darüber gesprochen wird, wie der weitere Vormittag sich gestalten wird, fällt mir eine Analogie ein, da ich lange Zeit Vor- standsmitglied bei Literatur Vorarlberg (ehemals Autorenverband) war. Auch wir hatten starre Strukturen im Verein und wussten nicht, wie die Mitglieder zu bewegen waren. Schlussendlich verzichteten wir auf Letzteres und begannen, uns selbstermächtigt und selbstor- ganisierend um das zu kümmern, was uns wichtig war: die Literatur selbst und der Nachwuchs. Wir organisierten Workshops für Kinder und Jugendliche, führten sie allmählich an erste Veröffentlichungen, ans Theater und an den Rundfunk (Hörspiele) heran. Dazu nutzten wir auch alle persönlichen Beziehungen. Inzwischen haben sich schon einige einen Namen gemacht und mischen die literarische Szene er- frischend auf. In besonderen Veranstaltungen vernetzen sich dann junge und eingesessene Literaten – bereichernd für beide Seiten. Mittlerweile haben wir auch ein virtuelles Literaturhaus eingerichtet, eine halbtägig engagierte Geschäftsführerin vernetzt die Literaten mit den Literaturbetrieben, was auch zu einer sinnvollen Vernetzung der Literaturbetriebe führt. Noch einmal gehen wir in die drei Gruppen mit der grundlegenden Frage: Wie sieht eine Ärztekammer für ein gutes Leben aus? Wo, wenn nicht hier. Wann, wenn nicht jetzt. Wer, wenn nicht wir. Wir sind aufgefordert, für die Ideensammlung out of the box zu den- ken, für die Frage, wie wir in die Aktion kommen, sämtliche Bewer- tungen zu vergessen und die Schwarmintelligenz zuzulassen, mit Mut zu vertrauen, dass wir in einem andauernden Prozess sind, und wenn Widerstände auftreten sollten, genau hinzuschauen, wo diese auftau­ chen. Widerstände zeigen an, wen man mitnehmen muss. In unserer Arbeitsgruppe „Politisches Gestalten“ verdichtet sich die Annahme, dass man mit „dem Land“ in direkten Kontakt treten muss. Sofort stellen sich bei mir Bilder ein. Der Landesrat bei der Eröffnung von Kunst am Bau im Krankenhaus Bludenz. Auch ein Text von mir läuft dort über den Bildschirm. Kunscht am Bau. Fit mach mit. Kunscht im Bau. Kunscht macht mit. Kunscht ischt gsund. Kunnscht no mit? Warum nur hat der Landesrat immer diese zwei Felder (Gesundheit und Kultur), frage ich mich zum wiederholten Male. Wie berühren, wie befruchten sich die beiden? Poetische Dokumentation Poetische Dokumentation

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