Für ein heilsames Miteinander - Buch 1: Expedition in neue Felder
180 181 Ich notiere: Das muss ich ihn beim nächsten Kulturtreff fragen. Ich habe wohl zu sehr über Berührung nachgedacht. Als ich in die Mittagspause gehe, fährt mir ein Mann im Rollstuhl vor die Beine und fordert mich auf, etwas für ihn zu tun. Ich muss nachfragen, er nuschelt. Ich lege mein Ohr an seinen Mund. Klar, er will, dass ich ihn berühre! Er brauche das, das tue ihm gut. Ich bräuchte auch Berüh- rungen zu diesem Zeitpunkt, aber ich wäre vermutlich nicht überfor- derter gewesen, hätte mir einer der Ärzte angeboten, mich zu berüh- ren. Himmel! Wie gibt man einem alten, gebrechlichen Mann höflich einen Korb? Ich kann doch jetzt nicht mitten im Gang einen alten Mann streicheln? Berührungen brauchen einen Rahmen, der ihrer Intimi- tät entspricht. Aber aufs Zimmer gehen will ich auch nicht mit ihm. Mein Blick fällt auf das alte Paar im Hintergrund. Sie rauchen fröh- lich, ich würde mich gerne zu ihnen gesellen. Um Verständnis bittend sage ich zu dem Herrn, dass das jetzt keinen Platz hat. Eine alte Frau ruft: Geht weg! Ihr stört. Ja, wir bringen den gemächlichen Rhythmus hier durcheinander, besetzen den Speisesaal, verstopfen den Gang und sind nicht einmal zu Berührungen bereit. Eine andere alte Frau murmelt: „Jetzt kommt das gute Essen.“ Jetzt habe ich auch noch ein schlechtes Gewissen, das sich erst beruhigt, als ich feststelle, dass die Zusammenstellung des Menüs für mich nicht geeignet ist. Das Altersheim schlägt auf seine Weise am Mittagstisch zu- rück, es wirkt sich auf die Gespräche aus. Ich höre zum Beispiel Ärzte über das Thema „Patient_innenverfügung“ sprechen. Auch Ärzte möchten nicht gegen ihren Willen auf der Intensivstation zwischen Maschinen und Schläuchen sterben. Auch Ärzte schreiben und unter- schreiben eine Patient_innenverfügung. Die wichtigste Frage dabei sei: Wo deponiert man sie? Die sicherste Möglichkeit sei, sie bei den Kindern zu hinterlegen. Was aber, wenn man keine Kinder hat? Was, wenn diese im aktuellen Mo- ment auch gar nicht erreichbar sind? Gäbe es eine Möglichkeit, frage ich mich darüber nachsinnend, dass die Ärztekammer Vorarlberg hier einen neuen Weg geht und sich tatsächlich in den Dienst der Patient_innen stellt, indem sie via ihres Rechtsvertreters eine zentrale Datenbank einführt, in der Patient_in- nen sicher ihre Verfügung hinterlegen und andererseits die Ärzte direkten, sicheren und doch unkomplizierten Zugriff auf dieselbe haben könnten? So leicht sich das Thema Widerstand am Vormittag protokol- lieren ließ, so schwer ist es nach der Mittagspause, in den eigenen Widerstand zu laufen. Ich werde gebeten, ein paar Interviews mit Ärz- ten und anderen Teilnehmer_innen zu machen, die sich dafür bereit erklärt hatten. Ich habe ein äußerst schräges Verhältnis zu Interviews auf der Seite der zu Interviewenden – auf der anderen Seite war ich noch nie. Ich bin so geschockt, dass ich mir nicht einmal die Fragen merke, die mir spontan mitgegeben wurden, die ich sogar notiert hat- te. Ich sehe rein gar nichts auf meinem Zettel. Fragt denn ein Patient je einen Arzt: „Herr Doktor, was sind Ihre Symptome? Wie fühlen Sie sich in Ihrer Praxis? Finden Sie, dass ich Ihnen die richtigen Fragen stelle?“ So ähnlich kommt mir das vor. Mein altes Trauma ist wieder da. Hansjörg und Frank beruhigen mich bei einer Zigarette, aber ich sehe die Ärzte drinnen, die mir in ein paar Jahren vorwurfsvoll die Diagno- se Lungenkrebs diagnostizieren werden. Meine Nervosität legt sich nicht, bis mir einfällt, dass die Epigenetik meiner Familie auf no-cancer programmiert ist, dem Himmel sei Dank. So interviewe ich die tapferen Seelen, es stellt sich heraus, die meisten sind genauso nervös wie ich. Ob ich die richtigen Fragen gestellt habe, kann ich nicht mehr nachvollziehen – ich war komplett im Moment. Ich habe auf jeden Fall keinen gefragt, wie sich sein Ge- schlecht auf seinen Beruf auswirkt, wie er Beruf und Familie verbindet und woher er seine Inspirationen bezieht. Das waren die Fragen, die mich immer entsetzlich genervt hatten. Ich habe auch keinen diese wirklich blöde Frage gefragt, wie sich die Tatsache, dass er ein „Baby- boomer“ sei, auf seine Tätigkeit auswirkt, es war nämlich außer mir keiner dabei. Im Übrigen hat man den Landesrat diesbezüglich sicher auch noch nie befragt. Herr Landesrat, wie fühlten Sie sich als Baby- boomer am Seziertisch? Einen Kopf größer als die anderen, wäre die schlichte Antwort. Ich habe das Bild noch vor mir, wir haben im selben Jahr zu studieren begonnen. (Anmerkung: Obwohl es gut tut, die alte Wut zu formulieren, gehört sie nicht hierher, der ganze Absatz ist zu streichen.) Entscheidungsraum . Was für ein Wort! Nach den Interviews begebe ich mich wieder in die Versamm- lung. Die Ergebnisse der einzelnen Gruppen wurden inzwischen vor- gestellt, ich habe sie teilweise verpasst. Aber das ist es nicht, was mich jetzt, aus der stillen Konzentration der Interviews kommend, nervös macht. Etwas ist geschehen in diesem Raum, und ich weiß nicht, was. Es ist eine Ungeduld spürbar, eine Aggression keimt auf. Was nur habe ich verpasst? Auf meine Unterlagen blickend, stelle ich fest, wir sind im Zeitplan, das kann es nicht sein. Entscheidungsraum, steht da. Ja, der hat sich nicht verändert. Konsentmethode, steht da. Das muss es sein. Aber das kann ich erst hinterher denken, im Moment bin ich äußerst verwirrt. Wo ist die gemeinsame Freude geblieben? Die Aufbruchs- stimmung? Warum spricht man jetzt nicht mehr im Dialog? Jeder nimmt auf jeden Bezug, das ist Diskussion, das entzweit, und das ist spürbar. Was ist zu tun, Gabriele, was ist zu tun, frage ich mich, Poetische Dokumentation Poetische Dokumentation
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