Für ein heilsames Miteinander - Buch 1: Expedition in neue Felder
182 183 während grüne, rote und gelbe Karten ausgeteilt werden. Ich habe nur rot und grün und ich weiß nicht, was ich damit bewirken soll. Ich komme in meinen gewohnten Totstellreflex, der mich bei Bedrohung lähmt. Bedroht bin ich nicht körperlich, nicht geistig, sondern in mei- ner Integrität. Ich atme tief durch und lasse mich auf das Voten für Aktionen, deren Umsetzung ich befürworte, und auf den Konsent ein. Ich stelle fast verwundert fest, dass eine Art zirkuläres Denken trotz den Ge- schehnissen in den letzten beiden Stunden gegriffen hat. Kurz freue ich mich, doch andere sind enttäuscht – vielleicht ist das das Neue am Konsent, denke ich. Die Soziokratie funktioniert anders als die Demo- kratie. Das ist schwer zu lernen, das ist schwer auszuhalten momen- tan. Meine Achtung für die Teilnehmer wächst noch einmal, obwohl inzwischen eine klare Drohung im Raum steht – auch das muss Platz haben, wenn wir neue Wege gehen. Doch ich bin traurig. Es ergaben sich nach dem Voting klare Aktionsradien – Verant- wortliche für einzelne Arbeitsrichtungen werden gesucht, gefunden und notiert. Ein neues Strukturmodell wird vorgestellt. So viel Neues in so kurzer Zeit – es ist nicht einfach, das Modell zu verstehen, obwohl es die einfachste Möglichkeit für eine Komplexität bietet. Vielleicht war keinem bewusst, wieviel Arbeit da tatsächlich auf ihn zukommt, denke ich, vielleicht müsste man das von vorne herein klarer definieren. Selbstorganisation anzuleiern ist tatsächlich enorm schwierig, viel- leicht ist es sogar ein Widerspruch und löst dann irgendwann Wider- stand aus. Und dann verbiete ich mir die Gedanken. Ich schaue nur noch. Ich sehe, der Platz in der Mitte des Ple- nums ist leer. Ich hole den wunderbaren Blumenstrauß aus orange- farbenen Gerbera und stelle ihn in die Mitte. Für mich ist inzwischen klar, dass ich die wenigen Worte des gestrigen Morgens, die meine Schlusszeilen sein sollten, in die Mitte legen werde, und Intimität braucht einen entsprechenden Rahmen. Die Schlussrunde beginnt. Ich kann kaummehr zuhören, was der Einzelne sagt. Wie durch gewollten Zufall bin ich die drittletzte, die etwas formulieren soll. Globusgefühl. Ich schlucke also mehr, als ich spreche, ich stammle. Wieviel Wertschätzung ich empfinde für jeden, der hier im Dienste der Allgemeinheit teilnimmt. Wieviel Liebe ich empfand, als das Wort Traumberuf auf den Flipcharts aufschien. Wie mutig das alles ist, was wir gemeinsam tun. Ich erzähle, wie mich die Worte fanden, die ich hier auf einem Blatt Papier aufgeschrieben habe, versehen mit einer Zeichnung, um die ich meinen Mann gebeten hatte. Ich krame das Papier aus meinen Unterlagen. Ich höre mich sagen, ich sei nervös. Mein Hirn setzt aus, mein Herz schlägt schräge Synkopen, meine Hände zittern. Aber das steht bereits alles auf dem Papier, das ich in die Mitte lege. Hirn | Herz | Hand Ärztekammer | Für ein heilsames Miteinander Und jetzt weiß ich es. Es war das Runterbrechen der vielen erarbeite- ten Formulierungen auf wenige Wörter, die Unstimmigkeiten erzeug- ten. Aber das Runterbrechen ist notwendig, die verdichteten Wörter bleiben uns im Gedächtnis, sie bilden den Claim. Damit stecken wir ganz klar ab, wohin wir wollen. Das große Ganze wird auf diese Weise nicht verwässert. Ich blicke in die Runde. Ich weiß, der Weg ist schwer. Aber ich weiß auch, dass diese Ärzte, die hier sitzen, noch Leben retten wer- den, wenn das Gesundheitssystem bereits zusammengebrochen ist. Sie haben einen Eid geschworen. Vielleicht ist es dieser Eid, der ihnen diese schwere Ehre auflädt, jetzt schon Entwicklungen im Voraus zu begreifen und mit zu lenken, damit es eben nicht zu einem Kollaps kommt. Das ist Vorsorgemedizin in cultus atque humanitas. Poetische Dokumentation Poetische Dokumentation
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