Für ein heilsames Miteinander - Buch 1: Expedition in neue Felder
184 185 Familie, in der Krankenversorgung, im Pflegebereich, im ganzen Sozial- bereich überhaupt, zusammengehalten hatten. Warum nehmen wir Anstoß an der Kostexplosion im ganzen Gesundheitsbereich? Warum diskutieren wir nicht ein Grundeinkommen und damit eine möglicher- weise wieder zunehmende Eigenverantwortlichkeit der Menschen durch Entlastung? Warum lassen wir stattdessen die Ökonomisierung der Gesundheit zu? Ganz ehrlich gesagt, bin ich froh, dass die Ärzte- kammer Vorarlberg aufwacht. Hatte ich in meinem ersten literarischen Protokoll von Vorsorgemedizin in cultus atque humanitas gesprochen, spreche ich jetzt von politischer Vorsorge. In re publica versari. Indem man sich selbst unter die Lupe nimmt. Ich bin dankbar für jeden Einzel- nen, der sich hier in die Visionstagung einbringt, um Neues auszubrin- gen. Ausbringen tut man gemeinhin ja nur die Gülle. Lägala. Das aber dezimiert die Blumenvielfalt. Der Freitagabend soll uns dazu dienen, uns nach bald einem Jahr wieder klar zu werden, warum wir da sind. Nach der letzten Tagung hatten sich drei sogenannte Entwicklungskreise herauskristal- lisiert: Identität gestalten | Soziales Gestalten | Politisches Gestalten. Aus diesen Entwicklungskreisen wurden damals 5 konkrete Projekte geboren: Versöhnung intern, Versöhnung nach außen, Gesundheits- forum, Mentoring und Antiraunzerkampagne . Alle Gruppen arbeiten. Zwei der Projekte öffnen sich für breitere Unterstützung. Wir treffen uns daher in der großen Gruppe (ca. 40 TeilnehmerInnen), um uns die Probleme der Arbeitsgruppen Mentoring und Versöhnung intern an diesemWochenende genauer anzuschauen. Ich blicke auf meinen Notizblock. Da ist der Hund drin, steht dort. Völlig unpoetisch so eine Aussage. Dann höre ich die Glocke. Kuno Sohm ruft uns sanft und ohne Worte ins Plenum. Michael Jonas begrüßt alle. Burkhard Walla spricht dann von einem weiten Feld. Ich denke an die Blumen und dass ich manchmal glaube, dass jede Blume über einen Schmetterling in der gleichen Farbe verfügt. Bettina Grager, die Lei- terin des erweiterten Kernteams, stellt das Programm für den Abend vor. Drei große Männer sind eingeladen, Impulsreferate zu halten: Ein Mann aus der Wirtschaft, ein ehemaliger Bürgermeister, ein Soziologe. Der Bürgermeister und der Soziologe sind kleiner als der Mann aus der Wirtschaft, stelle ich fest und hüte mich, einen Schluss daraus zu ziehen. Was ich sehe ist quasi nur ein Standbild. Dann sagt jemand, wer nicht gefilmt werden möchte, solle sich bitte melden. Ich muss lächeln, weil ich plötzlich denke, dass eine aufgestellte Garden-Watch-Kamera vermutlich auch einen interessanten Film ergäbe. Leonard Clemens, der Mann aus der Wirtschaft, ist sicher über einen Meter neunzig groß. „Ich habe sieben Minuten“, sagt er, und gleich darauf: „Ich bin einer von Ihnen.“ Die Zeit, die ihm gegeben ist, macht ihn zu einem von uns, notiere ich. EINE POETISCHE DOKUMENTATION Von Gabriele Bösch Es ist Sonntag. Die Sonne, die wir gestern verpasst haben, will sich heu- te nicht einstellen. Die orangefarbenen Blätter der Hamamelis leuchten dennoch im Dunst vor dem purpurnen Hintergrund der Berberitze, die bereits ein halbes Jahrhundert alt ist. Licht, denke ich, bricht sich im Nebel an Millionen von feinsten Widerständen und bringt die far- bigen Blätter zum Schweben. Ich sitze am Schreibtisch und denke über meinen eigenen Widerstand von vorgestern nach. Es war mir am Freitagabend schwer gefallen, den Martinspark zu betreten, weil ich Angst hatte. Lochplatten und bestimmte Teppichmuster in Kombination mit Kunstlicht können bei mir eine Migräne auslösen wie Blitzlichter bei anderen Menschen einen epileptischen Anfall. Normalerweise umgehe ich daher solche Räume. So mag ich vielleicht ein bisschen unfreundlich gewirkt haben, als ich zunächst den Raum untersuchte, bevor ich die Menschen begrüßte. Ich wollte mir einen Stuhl reservieren, von dem aus mich die Linearität der Latten vor den Fenstern und jene der Lich- ter an der Decke möglichst wenig behelligen würden. Sich von Licht nicht behelligen lassen. Ich werde wohl nie verstehen, warum Archi- tekten eine Glasfront hochziehen, um das einfallende Licht dann durch Latten zu brechen. So suchte ich mir einen Stuhl, der mir ermöglichte, am linken Eck des Raumes durch die Latten hindurch eine Art Horizont zu erblicken. Ein bisschen Himmel über den Bergen. Ich beschloss, dieses Mal meine Beobachtungen weniger an das Schauen als vielmehr an das Hören zu binden. „Sie sind der Techniker?“, hörte ich da prompt. Hansjörg Kapeller stand im rechten Eck und richtete in diesem Moment seine Kamera ein. Er war keineswegs der Techniker, wenn auch sehr hilfsbereit. Wir sehen ein einziges Bild und ziehen schon unsere Schlüsse daraus, dachte ich. Wir betrachten eine einzelne statistische Kurve und verges- sen, andere darüber zu legen. Mir kommt die allererste Visionstagung vom April 2015 in den Sinn. Damals wurde ein kurzer Film über die Ärztekammer gezeigt. Darin war eine Grafik aufgetaucht, die die Ent- wicklung der Ärzteanzahl in Vorarlberg darstellte. Die Kurve stieg von links unten nach rechts oben steil an. In den fünfziger Jahren hatte es ungefähr 150 Ärzte in Vorarlberg gegeben, heute gibt es um die 1500. Damals hatte ich spontan gedacht, man müsse über diese Kurve die Kurve der Reallohnentwicklung legen und dann noch die Kurve der Ent- wicklung des Zustroms der Frauen auf den Arbeitsmarkt (das männli- che Ernährermodell funktioniert schon lange nicht mehr). Zuletzt hätte ich noch die Kurve über die Kostenexplosion im Pflegebereich darüber gelegt und aus der Zusammenschau vermutlich den traurigen Schluss gezogen, dass Frauen dieses Land durch ihre unbezahlte Arbeit in der 21./22. Oktober 2016 ein anderer Zugang... Visionsklausuren der Ärztekammer Poetische Dokumentation Poetische Dokumentation
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