Für ein heilsames Miteinander - Buch 1: Expedition in neue Felder
190 191 Zeit hat. Es ist unglaublich, aber vor dem rechten Schalten gibt es eine Schlange, während links ein einzelner Mann bedient wird. Ich denke, wir kennen solche Erlebnisse alle aus dem Supermarkt. Mark zeigt uns ein anderes Bild: Die Überholspur für Fußgänger. Track pavement. Wer überholt wen im Hamsterrad und wozu? Wer gewinnt da eigentlich? Und wie wird dadurch der blinde Gehorsam verstärkt und verbreitet? Vor 25 Jahren hat Mark Riklin sich beim Verein zur Verzögerung der Zeit beworben und wurde angenommen. Er als Einzelner stellt die Schweizer Vertretung dar. Ich muss innerlich lachen. Ich müsste dort eigentlich auch Mitglied sein. Entschleunigung ist das Schlag- wort. Die Not-to-do-list. Das Monotasking. Nur ein Ding machen pro Tag und nicht den Computer mit auf die Toilette nehmen. Haben Sie heute schon nichts gemacht? Ja, ich kenne diese Tage, gebe ich mir selbst die Antwort. Als Künstlerin habe ich öfters „Leerläufe“, und merke erst viel später, dass in diesen Zeiten so vieles entsteht, worauf ich später in der Arbeit direkt zurückgreifen kann. Denn auch im Nichtstun tun wir nicht nichts. Wir schauen. Wir genießen. Wir hören Melodien, die wir nie zuvor wahrgenommen haben. Wir lassen uns verändern in dieser Zeit, von der Zeit, vom Leben selbst. Wir lassen uns selbst zu. Da fragt Mark Riklin, wer heute schon eine email gelöscht habe. Ich habe keine Hand gesehen, die nicht hoch gegangen wäre. Mark Riklin fragt weiter, wer heute schon geküsst habe. Immerhin. Es gehen eigentlich ziemlich viele Hände hoch. Wer heute 75 Jahre alt würde, der hätte 23 Jahre geschlafen, 6 Jahre im Internet verbracht, 8 Monate lang emails gelöscht und nur 14 Tage lang geküsst. Ich bin schockiert. 23 Jahre lang schlafen. Und statt 6 Jahre im Internet war ich mehr als sechs Jahre in den Wiesen. Ich halte mich für relativ gesund. Nur die Bilanz mit dem Küssen stimmt mich sehr nachdenklich. Nehmen sich die Menschen keine Zeit mehr, ihre Kinder zu herzen? Oder haben sie gar keine mehr? Das Monster mailbox. Please don´t expect a superfast answer but feel free to send a reminder. Besten Dank für Ihre email. Wir sind bis 19. Ok- tober am sardischen Strand. Wenn Sie mich dennoch erreichen wollen, senden Sie eine Postkarte. Zuerst wartete ich langsam, dann immer schneller (Karl Valen- tin). Diesen Spruch nahmen Riklin und seine Mittäter zum Anlass, ein Stau-Theater zu erfinden. Wenn die Ampeln auf Rot standen, wurden Figuren, die im Abstand von 12 Metern standen, beleuchtet. Sie fingen an zu tanzen. Wenn es gelingt einen unangenehmen Moment in einen angenehmen zu verwandeln. Dann verstärkt sich mitunter der Stau. Schon wieder muss ich lachen. Kairos. Die gefühlte Zeit. Es war ein langer und äußerst an- genehmer Abend. Ich habe viel Glück getankt. Das kleine Glück ist eine Sichtweise auf die Dinge. Vielleicht auch eine Frage der Wahrnehmung. Ja. Glück muss man für wahr nehmen. Ich sehe an diesem Abend alle habe, dass die Menschen einander einfach das Mikrofon weitergereicht hätten. Er habe nie eingreifen oder auffordern müssen. Was für mich so selbstverständlich erschienen war, war ihm jedoch aufgefallen. Er ist sichtlich begeistert. Das Miteinander äußert sich vor allem in den kleinen Dingen, denke ich, und Erfolg ist nicht immer sichtbar. Eine große Karotte äußert sich manchmal nur in wenig Grünzeug an der Erdoberfläche, eine mickrige Karotte hingegen kann auch sehr viel Grünzeug entwickeln. Es geht vor allen Dingen um die Änderungen der Haltungen. Ich muss lächeln während ich mich weiter drehe. Benja- min, ein Jungarzt, bückt sich, damit Katharina, eine Jungärztin, etwas auf seinem Rücken auf ihre Karte schreiben kann. Sie haben bereits ihre Haltung verändert, sind vielleicht sogar schon so aufgewachsen. „Facebook ist out“, sagt Benjamin. „Wie schreibt man Whats App?“, fragt Katharina. Keiner weiß es wirklich, allen ist es egal, jeder weiß, was gemeint ist: Die beiden denken über Vernetzungsmöglichkeiten nach, und darüber, dass junge Ärzte eine andere Möglichkeit bevorzugen als ältere. Vielleicht. So jung, denke ich. Sie sind in ihrem Klinischen Prak- tikumsjahr und nehmen schon an dieser Visionstagung teil. So sieht Zukunft aus. In der Pause wurden die Stühle von guten Geistern in einen zweireihigen Halbkreis geordnet. Im Zentrum steht ein großer Korb mit Herbstblumen. Rot und orange leuchtende Dahlien. Und zarte Grä- ser, die sanft in der Fülle zittern. Glück und Zeit. Mark Riklin wird uns jetzt Schlummergedanken mitteilen. Ich kenne Mark Riklin indirekt vom Stadtentwicklungsprozess Hohe- nems durch das Buch, das zum Stadtentwicklungsprozess Rorschach entstanden ist. Mark Riklin ist Soziologe und Philosoph und hat viele kreative Momente in Rorschach eingebracht. Er hat z.B. Passanten ge- föhnt (Arbeit am Stadtklima), mit jungen Kreativen einen Brisenbutler erfunden (gegen kalten Wind), Wärmeflaschen auf Parkbänken aus- gelegt und Dachdinners in Wohnblöcken induziert. Die Frage nach Sinn und Unsinn dieser Aktionen hat zu vielfachen Begegnungen geführt. Er hat auch vor 13 Jahren die Meldestelle für Glücksmomente erfunden. Damit wollte er gegen die Bad News angehen. Es gäbe viele Probleme, aber die Welt sei nicht so schlecht, wie sie dargestellt werde. Glück und Zeit seien in dieser Nonstopgesellschaft etwas Flüchtiges, ein Zwillingspaar mit vielen Gemeinsamkeiten. Er wolle Lust machen, das eigene Rollenskript zu verlassen, er sei ein Sprungbrettbauer für Neues und Heiterkeit. Glück ist die Zeit, in der man sie vergisst. Er spricht vom flow-Moment, das der Psychologe und Glücksforscher Michaly Csikszentmihalyi in seinemWerk seit 1975 beschreibt. Die Selbstvergessenheit. Riklin zeigt uns einen Cartoon: Zwei Schalter. Auf dem linken steht: Hier anstellen, wer Zeit hat. Auf dem rechten steht: Hier anstellen, wer keine Poetische Dokumentation Poetische Dokumentation
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