ÖÄK, COVID-19

Das Kassensystem ist auf die Betreuung von Menschen mit Long COVID im niedergelassenen Bereich nicht vorbereitet. Die Bundeskurie niedergelassene Ärzte identifiziert 5 Punkte, die dringend behandelt werden müssen.

„Niedergelassene Ärztinnen und Ärzte stehen in ihrem Ordinations-Alltag einer neuen und beträchtlichen Herausforderung gegenüber, nämlich der Diagnose und Betreuung von immer mehr Patienten mit Long COVID“, schilderte Johannes Steinhart, Vizepräsident der Österreichischen Ärztekammer und Bundeskurienobmann der niedergelassenen Ärzte, im Rahmen einer Pressekonferenz. Von diesen sehr unterschiedlich ausgeprägten und meistens fächerübergreifenden gesundheitlichen Langzeitfolgen, die nach einer akuten COVID-Erkrankung auftreten können, könne grundsätzlich jeder COVID-Patient betroffen sein. „Diese zu diagnostizieren und zu behandeln ist sehr aufwändig, und dabei kommt den niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten eine zentrale Rolle zu. Allerdings ist das Kassensystem darauf nicht vorbereitet und stößt an seine Grenzen“, konstatierte Steinhart.

„Als müssten wir mit Handschellen arbeiten“
Die Kardiologin Bonni Syeda wies darauf hin, dass fehlende Kassenleistungen, Limitierungen und Deckelungen das Kassensystem an seine Grenzen bringen würden, „wenn wir eine dem neuesten Stand der Wissenschaft entsprechende Medizin betreiben möchten.“ So sei etwa die Bestimmung eines Laborparameters, um festzustellen, ob ein Patient im Rahmen der COVID-Infektion eine Herzmuskelbeteiligung hatte und dadurch vielleicht sogar eine Herzschwäche entwickelt hat, keine Kassenleistung. Deckelungen bei Herzultraschall-Untersuchungen, Lungenfunktionsuntersuchungen oder Blutgasanalysen würden ebenso die Arbeit erschweren. Zudem sei selbst das ärztliche Gespräch sowohl bei Fachärzten als auch bei Hausärzten gedeckelt. „Zum Beispiel werden bei den Internisten lediglich 18% der Arztgespräche von den Kassen übernommen. Das ist natürlich absurd, denn ein ärztliches Gespräch führen wir eigentlich mit 100% unserer Patienten“, führte Syeda aus. Gerade bei den Long-COVID-Patienten sei ein ausführliches Gespräch essentiell, denn diese Erkrankung betreffe viele Organe. „Bei solchen Gesprächen durch Deckelungen eingeschränkt zu sein, ist so, als müssten wir Ärzte mit Handschellen arbeiten“, beschrieb die Kardiologin.

Es gebe im niedergelassenen Bereich aber auch das Problem, dass in den Bundesländern unterschiedliche Kassenleistungen angeboten werden, sagte Syeda. Die Herz-CT-Untersuchung, mit der man feststellen könne, ob ein Patient herzinfarktgefährdet sei, werde etwa in Niederösterreich von allen Krankenkassen bezahlt, in Wien jedoch nur von den sogenannten kleinen Kassen. „Wir haben aber auch das Problem, dass bestimmte Untersuchungen wie etwa die Herzschrittmacherüberprüfung nach wie vor nur in Spitalsambulanzen durchgeführt werden können. Diese Patienten müssen auch während der Pandemie unnötigerweise Spitalsambulanzen aufsuchen, obwohl die Kapazitäten in den Spitälern bekanntlich am Limit sind“, führte Syeda aus, die anmerkte, dass eine Auslagerung dieser Leistungen in den niedergelassenen Bereich die Gesamtkosten deutlich senken würde, denn bekanntlich sei der niedergelassene Bereich günstiger als der intramurale Bereich.

„Deutliche Ressourcenaufstockung“
Dietmar Bayer, Facharzt für Psychiatrie und psychotherapeutische Medizin, führte aus, dass die Pandemie eine deutliche Zunahme von Angst, Depression oder posttraumatischen Belastungsstörungen mit sich gebracht habe. Psychische Störungen seien auch Teil der Long-COVID-Symptomatik. Dieses Symptombündel sei nicht neu: „Wir wissen, dass dieses Syndrom etwa nach schweren Infektionen auftreten kann und zu Erschöpfung bereits nach geringfügiger körperlicher Tätigkeit, zu Konzentrationsproblemen, zu Antriebsschwäche, zu reduzierter Stimmung, Depression, Schlafstörungen, etc., also insgesamt zu einem bleiernen Gefühl führen kann“, so Bayer. Ein normales Leben sei dann nicht möglich: „Viele Betroffene mit Long-COVID sind weit von dem entfernt, wie sie vor ihrer Erkrankung einmal waren.“

„Wir gehen davon aus, dass in Österreich derzeit 100.000 bis 150.000 Menschen aufgrund der Pandemie zusätzlich therapiebedürftige psychiatrische Komorbidität aufweisen. Das bedeutet natürlich bereits in der Primärdiagnostik einen beträchtlichen und zeitintensiven Mehraufwand, denn hier muss unter anderem auch sehr viel psychotherapeutisches Wissen einfließen“, so Bayer. Aber die Ressourcen in der Psychiatrie hätten hier nicht mithalten können. Bayer leitete daraus ab, dass es einer deutlichen Ressourcenaufstockung bedürfe. Das bedeute in den Akutpsychiatrien der Krankenhäuser mehr Betten und mehr Dienststellen, generell müsse die Anzahl von Fachärzten für Psychiatrie deutlich angehoben werden. „Derzeit gibt es in Österreich einen Kassenpsychiater pro 58.500 Bewohner, anzustreben ist gemäß Österreichischem Strukturplan Gesundheit ein Verhältnis von 1:35.000“, sagte Bayer, der betonte: „COVID ist nicht vorbei, und selbst nach einem möglichen Ende der Pandemie sind wohl noch lange Zeit psychiatrische Folgeerscheinungen zu erwarten. Und COVID wird nicht die letzte Pandemie gewesen sein. Zudem sollten sich Fachärzte, Hausärzte und oft auch Angehörige nichtärztlicher Gesundheitsberufe gemeinsam auf eine individuell angepasste Diagnose und den individuell bestmöglichen Therapieplan einigen, der auch psychische Gesichtspunkte einschließe. Diesem hohen Bedarf an fachlichem Austausch stünden in der kassenärztlichen Realität aber Limits und Degressionen gegenüber, hielt Bayer fest. Drittens forderte der Psychiater eine gute und unkomplizierte Vernetzung zwischen Allgemeinmedizinern, Fachärzten und zum Beispiel Physiotherapeuten, Ergotherapeuten oder Logopäden, wobei der Hausarzt die Drehscheibe sei. „Das kann heute sehr gut auf telemedizinischer Basis erfolgen“, sagte Bayer. Das Angebot müsse unbedingt weiter ausgebaut werden.

Fünf zentrale Punkte
Diese Statements würden deutlich aufzeigen, in welchen Bereichen das Kassensystem bei Long COVID an Grenzen stoße, fasste Steinhart zusammen, der fünf wesentliche Punkte anführte:

Long COVID muss als ein Krankheitsbild akzeptiert werden, das uns voraussichtlich noch lange Zeit begleiten wird. Es muss der Konsens bestehen, dass davon Betroffene nicht sich selbst überlassen bleiben, sondern bestmöglich versorgt werden. Das ist bei den zu erwartenden Patientenzahlen eine enorme Herausforderung und erfordert eine Flexibilisierung unseres Kassensystems: Anders ist einem komplexen Geschehen wie Long COVID, von dem sehr viele Menschen betroffen sein werden, nicht beizukommen.

Die Leistungsposition Long COVID muss in den kassenärztlichen Leistungskatalog der Österreichischen Gesundheitskasse aufgenommen werden. Im kassenärztlichen Honorarkatalog müssen der Krankheit angepasste Verrechnungspositionen für Long COVID geschaffen werden.

Deckelungen und Degressionen bei kassenärztlichen Leistungen müssen zunächst überall dort aufgehoben werden, wo sie die Betreuung von Long COVID behindern. Dass nur ein gewisser Prozentsatz der ärztlichen Leistungen von den Kassen bezahlt wird, und zwar unabhängig vom tatsächlichen Bedarf, geht an der Realität vorbei.

Der in der Betreuung von Long-COVID-Patienten erforderliche Austausch zwischen den medizinischen Fächern darf nicht durch Limitierungen beschränkt werden. Er muss, jeweils auf die bestmögliche Betreuung des einzelnen Patienten bezogen, bedarfsorientiert möglich sein: Entweder im direkten Gespräch oder telemedizinisch als multiprofessionelles virtuelles Kompetenzzentrum. Dafür müssen die kassenärztlichen Voraussetzungen geschaffen werden.

Eine adäquate Versorgung dieser komplexen und langwierigen Krankheit ist selbstverständlich nicht zum Nulltarif zu haben. Da kommen enorme zusätzliche Herausforderungen auf das Gesundheitssystem zu, und dafür muss die öffentliche Hand im Interesse Betroffener die erforderlichen Ressourcen bereitstellen.